Anpfiff - Das Fussball Magazin

Hetzjagd auf Schiris Beleidigungen und Bedrohungen häufen sich – selbst im Nachwuchsbereich Von Michael Selmeier Die Kritik an Schiedsrichtern ist so alt wie der Sport selbst. Egal, welche Sparte. Dumme Sprüche gab’s schon anno dunnemal, Schmähgesänge genauso. Gerade im professionellen Fußball-Zirkus ist jedoch eine bedenkliche Tendenz festzustellen. Auf dem Rasen wird bald mehr diskutiert als gedribbelt. Und auf der Tribüne schäumt die Volksseele immer öfter vor furchteinflößender Wut. Wurfgeschosse fliegen. Wie in Bochum, als Schiri-Assistent Christian Gittelmann von einem Bierbecher am Kopf getroffen wurde: Spielabbruch. Referee Felix Zwayer hatte beim Topspiel zwischen Dortmund und Bayern München nicht seinen besten Tag. Flugs wurde er zum Freiwild erklärt. Eine unerbittliche Hetzjagd im Netz – inklusive Morddrohung. Immer schön feige unter dem bequemen Deckmantel der Anonymität. Noch bedenklicher: Die Hemmschwelle sinkt im Amateur- und Nachwuchssektor ebenfalls unter die Grasnarbe. Selbst jugendliche Unparteiische werden bisweilen wüst beschimpft und körperlich bedrängt. Wir haben mit vier Vertretern der hiesigen Schiri-Gilde über die besorgniserregende Entwicklung gesprochen: Wolfgang Stark, Christian Leicher, Christoph Falterer und Paul Bittner. ABSOLUTES UNDING: Hier fliegt eine Pappe zum Transport von sechs Bechern Bier Richtung Schiri Benjamin Cortus (re.) und Assistent Christian Gittelmann. Foto: dpa Mal geadelt, mal getadelt Wolfgang Stark fordert „viel mehr Unterstützung von Verbandsseite“ (ms) Er hat eine Bilderbuch-Karriere hinter sich: Wolfgang Stark. Der Landshuter pfiff bei der WM in Südafrika (2010), bei der EM in Polen und der Ukraine (2012) und ist Rekord-Referee der Bundesliga (344 Partien). Obwohl er den Dienst vor einigen Jahren altersbedingt quittieren musste, ist er hautnah in den Stadien dabei – als Schiri-Beobachter und -Coach in der 1., 2. und 3. Liga. „Das macht mir nach wie vor Spaß“, sagt der Sparkassenkaufmann: „Ich habe noch einen guten Draht zu den aktiven Schiris und kann meine Erfahrungen weitergeben.“ Erlebt hat er in fast drei Jahrzehnten im Rampenlicht allerhand. „Auch früher gab’s Zoff“, findet der ehemalige FIFA-Schiri. Etwa in der Saison 2010/11: Wolfgang Stark verbannte Real-Trainer Jose Mourinho im Halbfinal-Hinspiel der Champions League gegen Barcelona vor 72000 Zuschauern im ausverkauften Bernabeu-Stadion in der 63. Minute auf die Tribüne. „Die Leistung des Schiedsrichters war schamlos“, zürnte Keeper Iker Casillas. Die UEFA bestätigte Starks Entscheidung und sperrte „The Special One“ fürs Rückspiel. Anderes Beispiel: Bei der „Euro 2012“ bekam Wolfgang Stark den schmalen Grat zwischen Adeln und Tadeln zu spüren. Nach seiner Leistung in der brisanten Partie zwischen Polen und Russland (1:1) wurde der Landshuter mit Lob überschüttet. Als er den Kroaten gegen Spanien einen Strafstoß verweigert hatte, hagelte es Kritik. „Der Blindfisch hat den Elfer nicht gesehen“, schimpfte der Leverkusener Bundesliga-Profi Vedran Corluka. Keine Frage: Kritik gehört zum Geschäft. Die aktuelle Entwicklung mit all den Auswüchsen bringt jedoch selbst den besonnenen Wolfgang Stark auf die Palme. „Dass sich das in letzter Zeit so gehäuft hat, ist beschämend, hängt aber auch mit der gesellschaftlichen Entwicklung zusammen“, sagt der Familienvater: „Erst recht, weil das alles anonym in den sozialen Medien abläuft und – der einzige Unterschied zu früher – über eben diese Kanäle schneller und weiter verbreitet wird als vor 15, 20 Jahren.“ Wolfgang Stark ist freilich ein Mann der Basis, schaut auf alle Ebenen. „Schlimmer ist’s eigentlich im Amateurbereich. Gerade in den untersten Klassen gibt’s nicht nur verbale, sondern zum Teil auch körperliche Angriffe“, sagt der 52-Jährige: „Da würde ich mir für die Schiedsrichter viel mehr Unterstützung von Verbandsseite wünschen – und entsprechend härtere Strafen und Konsequenzen.“ HAUTNAH DABEI: Der Landshuter Wolfgang Stark beobachtet und coacht Bundesliga-Referees. Foto: Christine Vinçon Leicher: „Wir sind kein Freiwild“ (ms) Die Szene, als ein Bierbecher seinen Kollegen Christian Gittelmann am Kopf traf, hat er natürlich auch gesehen. Und quittiert die unsägliche Aktion eines „Fans“ mit Kopfschütteln: „Es ist ja nix Neues, dass was auf den Platz fliegt – aber letztlich ist es ein Unding, weil jeder versucht, sein Bestes zu geben“, meint Christian Leicher. Der Landshuter, der für den SV Neuhausen unterwegs ist, arbeitet ebenfalls als SchiriAssistent in der Bundesliga, steht also immer mit dem Rücken zum Publikum. Da könnte einen im Stadion schon ein mulmiges Gefühl beschleichen. Muss es jedoch nicht, wie der 43-jährige Familienvater, der sich gerade auf seine 14. Saison im Oberhaus vorbereitet, versichert: „Ehrlich gesagt mache ich mir darüber überhaupt keine Gedanken, das würde mir nur die Konzentration nehmen.“ Mehr Sorgen macht sich Leicher um die Entwicklung in den unteren Amateurligen. „Körperliche Gewalt und verbale Attacken sind absolut zu verurteilen. Man sollte auf dem Platz nie seine Erziehung vergessen“, betont er: „Wer sich das Schiri-Leiberl überstreift und ehrenamtlich eine Dienstleistung für den Sport erbringt, ist noch lange kein Freiwild.“ Nicht für Zuschauer – und auch nicht für Spieler, Trainer oder Funktionäre. KLARE KANTE: „Man sollte auf dem Platz nie seine Erziehung vergessen“, sagt Christian Leicher – hier neben Kölns Coach Steffen Baumgart. Foto: imago Alarmglocken schrillen Kreisobmann Christoph Falterer plagt sich mit Aggressionen herum – und Schiri-Mangel Der Mann ist um seinen ehrenamtlichen Job nicht zu beneiden: Christoph Falterer (44). Der Landshuter pfeift seit 1997 und fungiert nun schon im siebten Jahr als Schiedsrichterobmann im Fußballkreis Niederbayern West. Zum einen plagt er sich mit zunehmender Aggressivität gegen seine Zunft herum, zum anderen beklagt er einen akuten Mangel an Unparteiischen. Definitiv keine Frage: Die Alarmglocken schrillen. „Wenn die Vereine nicht ihrer Verpflichtung gerecht werden, kommen wir nie auf einen grünen Zweig – und die Entwicklung wird immer so weitergehen“, sagt er. Herr Falterer, die Schiedsrichter werden immer öfter beschimpft, beleidigt oder sogar körperlich bedroht. Wie schaut’s im Kreis West aus? Chr i s toph Fal terer : In Niederbayern ist’s im Vergleich zu Großstädten wie etwa Berlin oder München oder zu anderen Landesverbänden wie Nordrhein-Westfalen, speziell im Ruhrpott, noch nicht so schlimm. Natürlich gibt’s auch bei uns Fälle, aber hauptsächlich im verbalen Bereich und eher selten körperlicher Natur. Tendenz steigend? Fal terer : Gefühlt ja. Das ist jedoch schwer abschätzbar, die Dunkelziffer ist sehr hoch. Weil sich viele Schiedsrichter fragen: Warum soll ich eine Meldung schreiben, wenn eh nix dabei herauskommt. Also melden sie nur krasse Fälle. Das gilt nicht nur für den Seniorenbereich. Im Nachwuchs gab’s zwar noch keinen Spielabbruch, aber die Aggressivität gegen Schiris ist da und wird von außen reingetragen. Von Trainern, Betreuern und Eltern. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück? Fal terer : Teils auf die gesellschaftliche Entwicklung. Unzufriedenheit und Tagesfrust entladen sich auf dem Fußballplatz. Zudem gibt’s heutzutage die Möglichkeit, sich anonym in den sozialen Medien zu verstecken, Polemik zu schüren, Kritik schon während eines Spiels abzufeuern und damit eine große Reichweite zu erzielen. Emotionen sind okay. Auch früher wurde geschimpft. Eine halbe Stunde nach dem Duschen war’s aber vorbei. Da braucht man sich nicht wundern, wenn Referees die Pfeife an den Nagel hängen. Fal terer : In der Tat. Das betrifft vor allem die jungen Schiedsrichter, die schnell wieder aufhören. Die älteren Unparteiischen haben oftmals ein dickeres Fell. Apropos: Wie werden jugendliche Schiris geschützt? Fal terer : Sie müssen bei ihren ersten Spielen nicht alleine raus, da werden sie von ihren Paten begleitet. Vier, fünf Partien in der Regel. Dann sind sie auf sich allein gestellt, weil wir leider nicht die Kapazitäten haben, sie langfristig zu begleiten. Schauen wir auf die Saison 2022/23. Wie ist die KreisSchiedsrichterei aufgestellt? Fal terer : Nicht gut. Wir sind jedes Wochenende auf Kante genäht, Ausfälle sind nahezu nicht zu kompensieren. Alleine von den 28 Vereinen der beiden Kreisligen fehlen 40 Schiedsrichter, die diese Clubs eigentlich bringen müssten. Das heißt: Jeder Verein, der sein Soll nicht erfüllt, bekommt im nicht-aufstiegsberechtigten Bereich, dem Reserve-Betrieb, keine Schiris mehr. Im Nachwuchs besetzen wir runter bis zur D-Junioren-Kreisliga. Mehr geht nicht, weil wir einfach nicht genügend Schiris haben. Wie viele sind’s konkret im Kreis Niederbayern West? Fal terer : Wir haben aktuell 554 aktive Referees, auf die wir die Aufgaben aufteilen – also Schiedsrichter, Assistenten und Beobachter. Der BFV will nun unter dem Motto „Ohne Schiri geht es nicht“ gegensteuern – auch mit höheren Aufwandsentschädigungen. Fal terer : Kampagnen sind ganz nett. Aber wenn die Clubs nicht ihrer Verpflichtung gerecht werden, kommen wir nie auf einen grünen Zweig – und die Entwicklung wird immer so weitergehen. Daher könnte das Motto über kurz oder lang auch lauten: Ohne Schiri wird’s bald gehen müssen. Was wir natürlich nicht hoffen. Mit Christoph Falterer sprach Michael Selmeier ZUKUNFTSSORGEN: „Wir sind jedes Wochenende auf Kante genäht, Ausfälle sind nahezu nicht zu kompensieren“, sagt Kreisobmann Christoph Falterer. Foto: pr „Cooles Hobby“ Der 23-jährige Paul Bittner pfeift gerne – und künftig sogar in der Bezirksliga (ms) Solche Typen tun der Schiedsrichter-Gilde richtig gut. Jung, dynamisch, erfolgreich. Mit Leidenschaft und Überzeugung dabei. „Ein cooles Hobby, das mir unheimlich viel Spaß macht“, sagt der 23-jährige Paul Bittner. Er pfeift seit 2014 und ist nach sechs Spielzeiten in der Kreisliga soeben in die Bezirksliga aufgestiegen. „Ich bin zufrieden“, sagt der bescheidene und sympathische Landshuter zu seiner Beförderung. Mit Kritik wird auch der Referee vom SV Münchnerau konfrontiert. „Beleidigungen gehören dazu, von Spielern sind sie aber eher selten und wenn dann aus der Emotion heraus. Von Zuschauern nehme ich sie gar nicht so aktiv wahr, weil ich mich aufs Spiel konzentriere. Körperlich bedroht wurde ich noch nie“, betont der Student. Dennoch macht sich Paul Bittner, dessen Vorbild Deniz Aytekin ist, darüber ernsthafte Gedanken und kommt zu dem nüchternen Ergebnis: „Die Entwicklung war zu erwarten, weil Fußball immer mehr zum Ventil der Gesellschaft geworden ist.“ Das trifft’s gut. GUT GELAUNT: „Die Schiedsrichterei macht mir unheimlich viel Spaß“, sagt der Landshuter Paul Bittner. Foto: pr Fußball in der Region – präsentiert von der Saison 2022 / 23 21 Fußball in der Region – präsentiert von der 20 Saison 2022 / 23

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