Niederbayern neu gedacht 01.11.2022

6 Herr Regierungspräsident, aus welcher Notwendigkeit heraus hat sich die Gebietsreform eigentlich ergeben? Rainer Haselbeck: Aus der Notwendigkeit, den Staat und seine Strukturen auf die neue Zeit einzustellen und zu modernisieren. Das war die größte Reform im Freistaat Bayern nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie war von der Politik unter Beteiligung der Wissenschaft und aller relevanten Ebenen gut vorbereitet. Und es ist - aus heutiger Sicht - außerordentlich schnell gegangen. 1967 wurde die Reform vom damaligen Ministerpräsidenten Alfons Goppel angekündigt, nach drei Jahren lag der Gesetzentwurf auf dem Tisch. Von welchen administrativen Dimensionen sprechen wir da? Haselbeck: Vor der Landkreisreform hatte Bayern 143 Landkreise, danach 71. Aus über 7000 Gemeinden wurden rund 2000. In Niederbayern waren es bis 1972 22 Landkreise, danach neun. Das klingt alles sehr technisch, aber da greifen Sie natürlich schon in gewachsene Strukturen, ja sogar in Identitäten ein. Wenn von 22 Landräten nur noch neun übrigbleiben, haben sie 13 Mal keinen Landrat, keinen Stellvertreter, keine Positionen mehr. Wenn ich mir heutige politische und gesellschaftliche Prozesse anschaue, dann muss ich sagen: Es war ein großes Werk in erstaunlich kurzer Zeit. War das möglich, weil damals einfach noch ohne Rücksicht auf Widerstände durchregiert wurde? Haselbeck: Das glaube ich nicht. Wie gesagt: Die Reform selbst ging aus heutiger Sicht fast sensationell schnell. Aber die Diskussionen darüber sind schon länger geführt worden. Von Politik, Verwaltung, Bürgern. Insbesondere aber auch unter wissenschaftlicher Begleitung. Was die Räume betrifft, ist Bayern damals am Reißbrett neugestaltet worden. Alle Landkreise und sehr viele Gemeinden wurden neu zugeschnitten. Bis hin zu Orts- und Stadtvierteln, die neu zugeteilt wurden. Da gab es auch Widerstände, die sich teils sehr deutlich manifestiert haben. Wobei es in Niederbayern noch vergleichsweise manierlich zuging. Im schwäbischen Horgau haben die Menschen buchstäblich mit der Mistgabel ihr Rathaus verteidigt. Und im unterfränkischen Dorf Ermershausen mussten Hundertschaften der Polizei anrücken, um einen Aufruhr in den Griff zu bekommen. Aber: Das waren einzelne Schlaglichter. Die Bevölkerung nickte die Reform ansonsten einfach nur ab? Haselbeck: Nicht ganz. Es hat ein Volksbegehren gegen die Reform gegeben, das mit 3,7 Prozent an Unterschriften deutlich gescheitert ist. Da haben wir wieder das Phänomen, dass man in der Breite durchaus eine große Zustimmung bekommen kann, während an einzelnen Hotspots die Emotionen hochkochen - das ist uns ja heute auch nicht ganz unbekannt. Glauben Sie, dass die damalige Umsetzung der Reform heute noch möglich wäre? Haselbeck: Das glaube ich so nicht. Die Akzeptanz demokratisch getroffener politischer Entscheidungen in der Bevölkerung war sicherlich größer als heute. Das Prinzip der repräsentativen Demokratie war stärker. Die Obrigkeitshörigkeit war damals größer, könnte manch einer einwenden… Die Mischung passt Interview: Uli Karg Regierungspräsident Rainer Haselbeck über eine Gebietsreform, deren Umsetzung so heute wohl nicht mehr möglich wäre Wir bringen Klassik auf ´s Land „Oberbairisch eingenordet“– unter diesem Titel findet am Freitag, 25. 11. 2022, um 19.30 Uhr das nächste Konzert der Sinfonietta Essenbach statt. Seit 2008 steht das professionelle Orchester unserer Region für Qualität und Innovation. Zuerst gibt es für Augen und Ohren Ausschnitte aus „Romeo und Julia“ von Sergej Prokoffiew. Als Partner der Sinfonietta tanzen fortgeschrittene Ballerinas der Ballettabteilung der Musikschule Markt Essenbach unter der Leitung von Christina Zirngibl. Vor der Pause erleben Sie das 1. Tubakonzert des zeitgenössischen bayerischen Komponisten Jörg Duda mit Andreas Martin Hofmeir als Solisten. Zuletzt folgt das berühmte Werk „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky in der Orchesterfassung von Maurice Ravel, kabarettistisch moderiert von Andreas Martin Hofmeir. Prof. Ulf Klausenitzer, künstlerischer Leiter und Dirigent der Sinfonietta Essenbach, gastiert weltweit und in Essenbach. Er war jahrzehntelang Mitglied bei den Bayreuther Festspielen, gründete zusammen mit Lord Yehudi Menuhin die Stiftung „Live music now“ und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Seit der Gründung im Jahr 2008 organisiert er zusammen mit Birgit Adolf (Leiterin der Musikschule Markt Essenbach) außergewöhnliche Konzerte in Essenbach. Andreas Martin Hofmeir, einer der besten und vielseitigsten Instrumentalisten der Gegenwart, ist ein Grenzgänger zwischen den Genres: Er ist Professor an der Universität Mozarteum Salzburg, war Gründungsmitglied der bayerischen Kult-Band LaBrassBanda und erhielt sowohl als Kabarettist als auch als klassischer Tubist zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Bayerischen Staatspreis für Musik 2020. Karten für das Konzert gibt es nur im Rathaus Essenbach, Tel: 08703/808-16 INFOS: www.sinfonietta-essenbach.de Andreas Richter 7 Haselbeck: Ich weiß immer nicht, ob das eine „Obrigkeit“ ist, die das Volk selbst gewählt hat. „Obrigkeit“ ist für mich vordemokratisch. Wir üben unsere Demokratie durch Wahlen aus. Wenn eine Mehrheit eine Regierung wählt, die dann den Auftrag hat, von dieser Mehrheit politisch Gebrauch zu machen, kann die Minderheit nicht ständig auf eine vermeintliche „Obrigkeit“ schimpfen. Gleichzeitig sind Entscheidungsprozesse aufgrund einer umfassenden Beteiligung heute wesentlich länger. Bei großen Infrastrukturprojekten wird ja von allen beklagt, dass sie so lange dauern. Auf der anderen Seite sind sie auf diese lange Dauer geradezu angelegt. Weil: erste Beteiligung, zweite Beteiligung, dritte Beteiligung. Das kostet Zeit. Jede Beteiligung bringt auch Einwendungen und neue Prüfungen mit sich. Das mag alles sinnvoll sein. Aber es braucht sich niemand wundern, dass es länger dauert. Zurück zur Zeit der Reform: Wie muss man sich das Bayern von damals vorstellen? So zwischen 68erund starker Agrar-Prägung - Franz Josef Strauß wurde erst 1978 Ministerpräsident. Haselbeck: Es gab sehr viele ehrenamtliche Bürgermeister mit einem ehrenamtlichen Gemeindemitarbeiter. Da spielte sich vieles, ich sage es jetzt mal sehr zugespitzt, zwischen Rathaus, Kirche und Wirtshaus ab. Und die damals Verantwortlichen haben erkannt, dass man so nicht weitermachen kann. Eine kleine Gemeinde konnte sich vielleicht keinen Kopierer leisten, drei zusammengelegte Gemeinden aber schon. Man ist dann auch mehr zu hauptamtlichen Bürgermeistern gekommen. Außerdem wurde die Behördenstruktur angepasst. Man hat geschaut, dass Behörden, Ämter, Gerichte mit den neuen kommunalen Strukturen zusammenpassen. Bayern stand, wirtschaftlich betrachtet, nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem letzten Platz der Ländertabelle. Noch in den 80er Jahren hatten wir in Teilen Niederbayerns im Bayerischen Wald im Winter Arbeitslosenquoten von über 40 Prozent. Mittlerweile herrscht dort Vollbeschäftigung - auch im Winter. Da ist Unglaubliches gelungen. Wenn wir vom Regierungsbezirk Niederbayern sprechen: Welche Vorteile hat die Reform bis heute gebracht? Haselbeck: Wir haben seitdem schlagkräftigere Verwaltungs- und Behördenstrukturen. Der Wandel von der Agrar- zur Industrie- und dann insbesondere zur Dienstleistungsgesellschaft ist durch diese Reform beschleunigt worden. Politik, Verwaltung und Wirtschaft sind durch diese Reform eindeutig gestärkt worden. Ich hatte eben ja erwähnt, in welcher Situation Bayern nach dem Krieg war. Und Niederbayern galt wiederum als Armenhaus der Bundesrepublik. Es gab hier einen außerordentlichen Aufstiegswillen. Aus dieser Zeit stammt auch noch das spezielle niederbayerische Geschick, zum Beispiel beim Einsatz von Fördermitteln. Das kommt aus dieser Zeit. Die Reform hat jetzt 50 Jahre getragen - wird sie auch die nächsten 50 Jahre tragen, oder zeichnet sich in manchen Bereichen neuer Handlungsbedarf ab? Haselbeck: Ich glaube, dass diese Gebietsreform auch weiterhin trägt. Weil sie damals das richtige Maß hatte. Man darf nicht vergessen: Es gab eine generelle Stimmung in Richtung effizienterer Strukturen in ganz Deutschland. Es gibt Bundesländer, die einen viel radikaleren Weg gegangen sind, die viel größere Einheiten haben, in Nordrhein-Westfalen etwa. Ein interessanter Aspekt von damals in Bayern ist auch: Die Staatsregierung hat sich in der Umsetzung der Reform verhältnismäßig leichtgetan, weil die Opposition eine deutlich weitgehendere Reform verlangt hat. Die sagten nicht: Wir wollen nicht, dass drei Gemeinden zu einer werden. Sondern: Wir wollen, dass zehn Gemeinden zu einer werden. Die bayerische Reform war auch aus heutiger Sicht gut austariert. Und hat Rücksicht genommen auf Aspekte wie Identität. Die Mischung passt. Wenn ich mir die Wirren unserer Zeit so anschaue, dann meine ich, dass die Menschen auch in Zukunft Heimat, Halt und Identität brauchen werden. Werk Dingolfing Werk Landshut

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