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42 ABENDZEITUNG SAMSTAG/SONNTAG, 29./30. 10. 2022 WWW.ABENDZEITUNG.DE LITERATUR Der Fluch des Pharao Können Sie etwas sehen?“, fragte George Herbert, 5. Earl of Carnarvon, ungeduldig. Seit fünf Jahren hatte er die Grabungen des Ägyptologen Howard Carter im Tal der Könige finanziert, mit der damals ungeheuren Summe von 45 000 britischen Pfund. Die Ergebnisse waren bescheiden, das Tal schien keine weiteren Entdeckungen mehr bereitzuhalten. Doch hartnäckig bestand Carter darauf, irgendwo zwischen den etwa 60 in den vergangenen Jahrzehnten entdeckten Gräbern müsse sich noch das eines weiteren Königs aus dem 14. Jahrhundert v. Chr. befinden, eines ganz bestimmten, historisch allerdings wenig bedeutenden Pharao namens Tutanchamun. Auf dem Areal, für das Carnavon von der ägyptischen Regierung eine Grabungslizenz erworben hatte, war nur noch eine Stelle unerforscht. Dort standen Reste von Hütten, die den Arbeitern im alten Ägypten seit dem 11. Jahrhundert v. Chr. als Unterkunft gedient hatten. Carter entschloss sich zu einem letzten Versuch und ließ die Hütten abreißen. Am 4. November 1922, vor 100 Jahren, fand er darunter Stufen, die anscheinend zu einem Grab führten, „KV62“, wie heute das wissenschaftliche Kürzel lautet, KV für „King’s Valley“. Grabplünderer hatten nicht viel mitgenommen Als am Ende der Treppe eine Tür zum Vorschein kam, zeigte ein Siegel, dass es sich um eine hochgestellte Persönlichkeit handeln musste, vielleicht einen Priester oder Hofbeamten, vielleicht aber auch einen Pharao. Carter widerstand der Versuchung, sofort weiterzugraben, und informierte Carnavon, der sich gerade in England aufhielt. Als Carter und Carnavon dann die Tür öffneten, mussten sie feststellen, dass ihnen Plünderer zuvorgekommen waren. Ein Gang führte zu einer zweiten Tür. Am 26. November bohrte Carter ein Loch hinein und versuchte, mit Hilfe einer Kerzenflamme etwas zu sehen. Und brachte dann auf Carnavons Frage hin die Worte hervor: „Ja, wunderbare Dinge!“ Einer jener Momente, in denen auch ernsthafte Wissenschaftler vergessen können, dass es in der Archäologie eigentlich nicht um das Graben nach wunderbaren Dingen geht, sondern um Erkenntnis. Aus der Menge der Kostbarkeiten, die hinter der Tür zu finden waren, stach ein goldener Thronsessel hervor. Auf der rechten Armlehne war „Tutanchaton“ zu lesen, auf der linken „Tutanchamun“, die beiden Namen, die der Pharao im Laufe seiner Regierungszeit geführt hatte. Aber es fehlte das Wichtigste an einem ägyptischen Grab, ein Sarkophag mit Mumie. Hatte Carter vielleicht eine Vorratskammer entdeckt, nicht aber das gesuchte Pharaonengrab? Der Pharao Echnaton, der eine Generation zuvor eine religiöse Revolution in Gang gesetzt hatte, indem er die Sonne unter dem Namen „Aton“ zur einzigen Gottheit Ägyptens erklärte, war einer Damnatio memoriae zum Opfer gefallen, nachdem sich die mächtige Priesterschaft des Gottes Amun wieder durchgesetzt hatte. Es war nicht auszuschließen, dass seinen Sohn und Schwiegersohn Tutanchamun ein ähnliches Schicksal ereilt hatte, dass auch sein Grab zerstört worden war. Die Plünderer hatten Spuren hinterlassen, offenbar aber nicht viel mitgenommen. Waren sie vor Ort überrascht worden? Oder vielleicht wurden sie auch durch die großen Wächterfiguren neben einer weiteren Tür auf der rechten Seite der Kammer wie magisch angezogen. Wenn diese Figuren die eigentliche Grabkammer bewachten, waren dort noch größere Schätze zu erwarten. Niemand kann sagen, welches Wechselspiel von Hoffnungen und Befürchtungen im alten Ägypten im Kopf von Grabplünderern ablief. Es sind einige Gebetsformeln überliefert, die Plünderer abschrecken und Wächter von den Versuchungen der Bestechlichkeit abhalten sollten. In der populären Literatur zum alten Ägypten werden sie heute unter dem griffigen Titel „Fluch des Pharao“ zusammengefasst. Die Mumie, die an den Schändern ihres Grabes schreckliche Rache nimmt, wurde zu einem beliebten Motiv des Gruselfilms. Anders als die Grabräuber drei Jahrtausende zuvor musste sich Carter jede Eile verbieten. Die wissenschaftliche Bearbeitung dessen, was er bereits gefunden hatte, würde Jahre in Anspruch nehmen. Ein halbes Jahrhundert zuvor hatte Heinrich Schliemann in den Mauern von Troja den „Schatz des Priamos“ noch im Alleingang geborgen. Jetzt war ein ganzer Stab von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen gefordert, mitsamt einer umfangreichen Laborausrüstung – schon um zu vermeiden, dass empfindliche Fundstücke beim Versuch, sie freizulegen, Schaden nahmen. Carter reiste nach Kairo, um dort die nötigen Vorbereitungen zu treffen. Für die Zwischenzeit wurde Tutanchamuns Grab wieder zugeschüttet. Das war allerdings nur eine behelfsmäßige Sicherung gegen Räuber. Carter ließ darum ein massives Eisengitter anbringen. Von der Fundstelle bis zum Nilufer wurde zudem eine provisorische Eisenbahnlinie eingerichtet, um die Stücke nach Kairo schaffen zu können. Am 17. Februar 1923 versammelten Carnavon und Carter vor der Tür zur mutmaßlichen Grabkammer zwei Dutzend Wissenschaftler und Regierungsvertreter. Eine Szene, die sich durch Carters späteren Bericht und durch die Nacherzählung in C. W. Cerams Bestseller „Götter, Gräber und Gelehrte“ dem Gedächtnis der Nachwelt eingeprägt hat. Ob das, was dann zum Vorschein kam, als Carter die Tür Stein für Stein abtrug, nicht nur für die Gäste, sondern auch für ihn selbst eine Überraschung war, ist allerdings zweifelhaft. Anderen Quellen zufolge hatten er und Carnavon sich längst vom Inhalt der Grabkammer überzeugt, vielleicht schon kurz nach der Entdeckung. Wie auch immer. Als Carter die Flügeltüren des Schreins öffnete, ob nun im Februar 1923 oder bereits im November zuvor, fand er einen zweiten Sarkophag – und auf dessen Türen ein unversehrtes Siegel. Soweit waren die Räuber also nicht vorgedrungen, Tutanchamuns Mumie war intakt. „Wir fühlten, dass wir in Gegenwart des toten Königs waren und ihm Ehrfurcht erweisen mussten.“ Eine Ehrfurcht, die aber nicht davon abhielt, den Schrein zu öffnen, die verschiedenen Särge auseinanderzunehmen und die Mumie selbst wissenschaftlich zu untersuchen, nicht anders als die vielen Hundert Gegenstände, die ihm ins Jenseits mitgegeben worden waren. Im April 1923 verstarb Lord Carnavon überraschend: Ein Moskitostich hatte sich beim Rasieren entzündet. Die Boulevardpresse machte daraus einen „Fluch des Pharao“. Das Gerücht ging um die Welt, im Grab sei eine inzwischen leider verschwundene Tafel mit der Aufschrift „Der Tod wird auf schnellen Schwingen zu jenem kommen, der die Ruhe des Pharao stört“ gefunden worden. Immer wenn in den folgenden Jahren jemand zu Tode kam, der an der Öffnung des Grabes beteiligt gewesen war, wurde gemunkelt, Tutanchamun habe sich gerächt. Oder vielleicht waren es ja auch die vier Schutzgöttinnen, die in einer Kammer gleich neben dem Grab die Ruhe des toten Pharao bewachten. Gleich nachdem sich die Nachricht von Carters Entdeckung verbreitet hatte, strömten massenhaft Touristen ins Tal der Könige. Pseudoägyptische Grabkleider wurden auf den Laufstegen der Modeindustrie zumHit. „Mumienweizen“, der angeblich aus Pharaonengräbern stammte und nach dreitausend Jahren wunderbarerweise seine Keimfähigkeit nicht verloren hatte, wurde teuer gehandelt. Die goldene Totenmaske wurde neben den Pyramiden von Gizeh und dem Kopf von Echnatons Gattin Nofretete, die vielleicht auch Tutanchamuns Mutter war, zur prägenden Ikone für das alte Ägypten – und natürlich bis heute zur strahlenden Werbemarke für das neue. Doch einen großen Makel hatte der sensationelle Fund: Ausgerechnet dieser Pharao, der mit seinen Grabbeigaben heute unser Bild vom alten Ägypten in einem Maße prägt wie kein anderer, war historisch einer der unbedeutendsten. Er verstarb 1323 v. Chr. im Alter von etwa 19 Jahren. Aller Wahrscheinlichkeit nach duldete er die Politik seiner Berater mehr, als dass er sie mitgestaltete. Aber in seiner Regierungszeit vollzog sich eben die Abkehr von der „Revolution“, die Echnaton in die Wege geleitet hatte. Tutanchamuns mutmaßlicher Vater war mit seinem Versuch gescheitert, die Priesterschaft des Gottes Amun zu entmachten und die Sonnenscheibe unter dem Namen „Aton“ zum einzigen Gott Ägyptens zu erklären. Dass Echnaton, außenpolitisch desinteressiert, die Positionen seines Reiches in Syrien weitgehend aufgab, entfremdete ihn zusätzlich den Eliten. Ein Blumenstrauß als letzter Gruß der Witwe Tutanchamun blieb gar keine andere Wahl, als die Aussöhnung mit der Amun-Priesterschaft zu suchen. Er änderte auch seinen Namen von „Tutanchaton“, „lebendes Abbild des Aton“, in „Tutanchamun“, „lebendiges Abbild des Amun“. Die restaurative Politik, die er oder vielmehr sein leitender Minister Eje praktizierte, verlief zunächst allerdings in gemäßigten Bahnen, ohne jeden Bildersturm. Dass Tutanchamun dann früh starb und Eje, vielleicht mit dem Königshaus verwandt, seine Nachfolge antrat, ließ jedenfalls Gerüchte aufkommen, er habe den jungen König ermordet. Bewiesen ist da allerdings nichts. Erst nachdem 1319 v. Chr. ein General Haremhab die Macht ergriffen hatte, wurde die Gegenrevolution radikaler. Haremhab datierte seinen Herrschaftsantritt um Jahrzehnte zurück, auf den Tod von Echnatons Vater Amenophis III., als dem letzten in seiner Sicht legitimen Pharao. Das Zeichen war eindeutig: Nicht nur der „Ketzerkönig“ Echnaton selbst, sondern auch Tutanchamun und Eje sollten aus dem historischen Gedächtnis getilgt werden. Wahrscheinlich wurde in diesem Zusammenhang auch Echnatons Grab zerstört. Das Grab Tutanchamun dagegen tastete Haremhab nicht an, warum auch immer. Eines der vielen Fundstücke – ein Strauß vertrockneter Blumen – erlaubt es den Archäologen sogar, den Todeszeitpunkt des Pharaos relativ genau zu bestimmen. Die Blumen blühen von Mitte März bis Anfang Mai, Tutanchamun muss also, wenn die Mumifizierung einen Zeitraum von geschätzten 70 Tagen in Anspruch nahm, im Januar oder Februar 1323 v. Chr. verstorben sein. Carter fühlte sich von dem kleinen, halb weißen, halb blauen Kranz aus Lotos und Kornblumen mit Olivenblättern menschlich angerührt: „All die königliche Pracht, all der Glanz und Schimmer des Goldes verblasst gegen die armen verdorrten Blumen.“ Nach seiner Wunschvorstellung hatte ihn Tutanchamuns Witwe als letzten Gruß niedergelegt. Josef Tutsch Vor 100 Jahren entdeckte Howard Carter das Grab Tutanchamuns im Tal der Könige in Ägypten

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