Abendzeitung - Spezial

36 ABENDZEITUNG SAMSTAG/SONNTAG, 29./30. 10. 2022 WWW.ABENDZEITUNG.DE KULTUR Höhenflüge der Fantasie Dass leblosen Dingen Leben eingehaucht wird – das ist beim Internationalen Figurentheaterfestival wunder. ein Phänomen, das man als Zuschauer natürlich in praktisch allen Produktionen erleben darf. Wie Javier Aranda diese Animationskunst in seinem Stück „Vida“ vollzieht, ist aber besonders anschaulich, wobei der gut gelaunte Spanier sogar im Nu noch ein paar Lebensjahre vergehen lässt. Einen Luftballon bläst Aranda auf, bis dieser prall mit seinem Atem gefüllt ist. Dann hebt er den Ballon an eine zusammengesunkene Handpuppe, und während er die Luft entweichen lässt, lässt er gleichzeitig die Puppe zu voller Größe aufsteigen. Schwupps ist aus dem Kind ein quicklebendiger Teenager geworden, dem Aranda nicht nur seinen Atem schenkt, sondern auch eine dunkle, brüske Kauderwelsch-Stimme verleiht. Klar, die Pubertät ist angebrochen, für die Eltern keine spaßige Sache. Die Geschichte seiner Mutter erzählt Aranda in „Vida“ (Leben), als Näherin hat sie gearbeitet, ihr altes Nähkörbchen ist ein Hauptrequisit der einstündigen Performance, die im Instituto Cervantes gastierte. Aus dem Körbchen holt Aranda so einiges heraus, seine Handpuppen zum Beispiel, ihre Haare strähnig und struwwelig, als ob für ihre Herstellung der ein oder andere Wischmopp dran glauben musste. Die Gesichter sind holzartig, die Nasen gnubblig, die Augen liegen tief. Es sind im Grunde Halbmasken, die Aranda mit zwei, drei Fingern hält. Die freibleibenden Finger bilden die unteren Gesichtshälften, bewegen sich als Münder, oder sie können ganze Unterkörper darstellen. Das männliche Handpuppen-Kind darf da auch mal über den dritten Finger staunen, der zwischen seinen Fingerbeinen baumelt. Javier Aranda kann virtuos mit zwei Händen zwei Puppen zum Leben erwecken und in Kontakt bringen. Frau und Mann begegnen sich, spielen Theater, sind Clowns, haben Sex, was dank des Korbes vor neugierigen (Kinder-)Augen verborgen werden kann (auch wenn Aranda dazu sehr eindeutig stöhnt). Schnell hat die Frau einen Schwangerschaftsbauch, mächtig wölbt er sich unter ihrem Kinn und entpuppt sich auf den zweiten Blick als das nackte Knie des Puppenspielers. Solche Einfälle hat Aranda en masse; „Vida“ ist eine originelle Figurentheater-Variante in Sachen (auto)biografisches Erzählen. Klare Worte braucht es nicht. Ein bisschen Stimmgequietsche, tolles Handpuppenspiel und ein paar Requisiten reichen aus, um ein paar grundlegende Dinge des Lebens vor Augen zu führen. Mit einem Luftballon schwebt der Sohn davon, es ist wohl ein Abschied von den Eltern, ein Fliegen in die nächste Lebensphase. Ähnlich wie Javier Aranda lässt auch Tibo Gebert auf der Bühne des HochX eine Puppe am Ende durch die Luft fliegen. Es ist eine lebensgroße Kinderpuppe, so strohblond wie er selbst, was darauf schließen lässt, dass sie ein junges Alter Ego darstellt. In diesen letzten, dank Gebert schwerelosen Momenten trägt sie ein dunkles SuperheldenCape und eine Maske mit spitzen Ohren, was stark nach Batman aussieht – dem wohl gebrochensten aller Helden, Bestandteil mancher Kinder- und Jugendzimmer. „Hero“ heißt die Performance der Numen Company, die der in Berlin und dem französischen Charleville-Mézières ausgebildete Puppenspieler Gebert im Jahr 2013 gründete. Laut Programmheft beleuchtet er in „Hero“ seine eigene queere Biografie, was sich bei alleinigem Anschauen der Performance nicht unbedingt erschließt. Vielmehr sieht man in stimmungsvollen Bildern, in langsam-eindringlichem Tempo und schlaglichtartigen, mit atmosphärischer Musik untermalten Szenen die Annäherung des dunkel gekleideten Puppenspielers Gebert an die von ihm gebaute Kinderpuppe. Es ist ein Spiel mit Licht und Schatten; gleich zu Beginn werden die Umrisse des Künstlers in die Schärfe gebracht. Und es ist ein Spiel aus Distanz und Nähe, bei dem es ganz einfache, stille Momente der (gegenseitigen) Betrachtung gibt. Die Bewegungsmöglichkeiten der Puppe testet Gebert mitunter aus, mittels seiner Animation macht sie Fitness-Übungen, Klimmzüge, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Vielleicht soll gezeigt werden, wie der blonde Junge sich dem üblichen Muskeltraining – wie man es von Jungs erwartet – unterwerfen musste. Vielleicht geht es auch vor allem darum, dass Gebert sich mittels der Puppe im Nachhinein mit sich, seinem Körper, seiner Psyche auseinandersetzt, mit den Maskierungen, die gegenüber einer – hier völlig ausgeblendeten – Umwelt notwendig erschienen. Das Ende könnte man vielleicht als einen Moment der Befreiung deuten. Was einst womöglich ein Kindertraum war, kann nun auf der Bühne auf gewisse Weise verwirklicht werden. Die Puppe kann fliegen. Wie lebensecht sie wirkt, sowohl, wenn sie Tibo Gebert in Bewegung bringt, als auch, wenn sie einfach nur zwischen Licht und Schatten gut positioniert dasitzt, ist gleichermaßen beeindruckend wie unheimlich. Ein Bild der Einsamkeit entsteht, aber im Theater, gerade beim Applaus löst es sich auf. Michael Stadler Figurentheaterfestival wunder., noch bis zum 8. November; Programm unter www.wunderpunktfestival.de Figurentheaterfestival wunder.: In „Vida“ und „Hero“ wird Biografisches per Puppe beleuchtet Javier Arandas Puppentheater „Vida“ erzählt die Geschichte einer Näherin. Foto: Festival Der dunkel gekleidete Puppenspieler und die Puppe in Tibo Geberts „Hero“. Im tiefen Schlund der Eifersucht Der Weg vom Roman oder Film auf die Bühne ist nicht ungewöhnlich. Das neue Projekt des Tams-Theaters aber hat seinen Ursprung in einem Podcast des Bayerischen Rundfunks. Vor zwei Jahren veröffentlichten Burchard Dabinnus und Tatjana Thamerus „Der Mörder und meine Cousine“ als siebenteilige Serie. Die fast vier Stunden zumAnhören verdichtete der Schauspieler und Regisseur Dabinnus zu 90 Minuten Dokutheater und inszenierte eine True-Crime-Story in eigener Sache. Das Mordopfer Saskia Steltzer war seine Cousine. Im Sommer 2013 wurde sie in ihrer Wohnung in Prien von ihrem Lebensgefährten Winfried Brenner mit zahlreichen Messerstichen ermordet. Empört vom Urteil des Traunsteiner Landgerichts, „mangels Zeugen“ einen erweiterten Selbstmord für möglich zu halten und nur eine Strafe wegen Totschlags zu verhängen, geht der Cousin auf die Spur des Täters. Er findet heraus, dass Saskia nicht das erste Opfer Winfrieds war. Auf sein Konto gehen bereits drei frühere Frauenmorde. Mit dem Darsteller-Quintett Marion Fraundorfer, Pia Kolb, Catalina Navarro Kirner, Olaf Becker und Arno Friedrich schildert Dabinnus in „Weil du mir gehörst“ Stationen des Winfried S. von seiner ersten tödlichen Beziehung zur finnischen Krankenschwester Leena Vartiaianen, die 1969 begann, bis zur blutigen Tragödie am Chiemsee vor neun Jahren. Die einzelnen Figuren sind mehr oder weniger von allen dargestellt: Die vier Frauen, Saskias Freunde, Winfrieds Bruder, den Psychopathen selbst, seine Psychiater, oder die Polizisten. Deren Arbeit ertönt auch in dem oft zarten und zerbrechlichen, manchmal aber auch massiv bedrohlichen Klangraum von Ardhi Engl, der eine alte Schreibmaschine als Perkussionsinstrument einsetzt. Die Wut, die Dabinnus sicherlich empfunden hat, erscheint kanalisiert in einer sehr dichten Erzählung, für die das Theater keine Emotion mit seinen Mitteln herstellen müsste. Wenn ein Verteidiger für ein mildes Urteil wirbt, da der Angeklagte getötet habe, „was er am meisten liebte“, ist das ein Satz wie eine Ohrfeige. Was vom auf den Punkt spielenden Team an Fakten szenisch zusammengetragen wird, fügt sich bis zum Ende zu einem Schlund aus Narzissmus, krankhafter Eifersucht, Sehnsucht nach Nähe und Liebe, falsch verstandener Solidarität unter Männern und einer Gewalt, die das Publikum fassungslos macht. Für das Tams ist das ein ungewohnt harter Stoff, dem man sich allerdings unbedingt aussetzen sollte. Mathias Hejny Tams-Theater, bis 19. November Mi bis Sa, 20 Uhr, ☎345890 Das Tams beschäftigt sich in „Der Mörder und meine Cousine“ mit einer wahren Geschichte Die Darsteller im Tams bei der Rekonstruktion eines Mordes. Foto: Vogl KULTUR kompakt ● ▲ Ein falsch gehängter Mondrian DÜSSELDORF Ein abstraktes Hauptwerk des niederländischen Abstraktionsmalers Piet Mondrian (1872–1944) hängt seit Jahrzehnten wohl falsch ausgerichtet auf dem Kopf in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. Dies enthüllte das Museum bei der Pressekonferenz zur Ausstellung „Mondrian.Evolution“, die zum 150. Geburtstag des niederländischen Künstlers gezeigt wird. Das 1941 entstandene Bild „New York City 1“, das aus waagerechtenund senkrechten roten, gelben und blauen Klebestreifenbesteht, gehört seit 1980 zum Bestand der NRWLandesgalerie. Im Gegensatz zu dem zeitgleich entstandenen fast identischen „Schwesterbild“ in Öl, das im Pariser Centre Pompidou hängt, sei das Klebestreifenbild aber schon kurz nach dem Tod Mondrians 1944 um 180 Grad gedreht worden, sagte Kuratorin Susanne MeyerBüser. Ein Foto, das kurz nach Mondrians Tod in dessen Atelier entstand, zeigt das Klebestreifenbild noch in anderer Ausrichtung auf der Staffelei. Das Bild „New York City I“ (1941) des Malers Piet Mondrian. Foto: dpa

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