Abendzeitung - Spezial

Die Erderwärmung schreitet voran. Wird nicht gegengesteuert, drohen Trockenheit und Wüstenbildung wie in dieser Illustration. Foto: Magictorch/imago „Es geht um Gerechtigkeit“ und vergessen, was die eigentlichen sind. Deshalb brauchen wir eine kulturelle Revolution, wie sie 1968 schon Aurelio Peccei gefordert hat, einer der Gründer des Club of Rome. Wir brauchen sie mehr denn je – auch vor dem Hintergrund des Krieges, der Entwicklung der Weltwirtschaft, der aktuellen politischen Verhältnisse. Der Brexit, Donald Trump – es ist doch kaum noch zu glauben, was da passiert. Gerade vor diesem Hintergrund klingt es beinahe romantisch, wenn Sie für mehr Moral, Rücksicht und Kooperation plädieren. Natürlich ist es romantisch – aber ebenso alternativlos. Sonst endet die Welt im Chaos. Der Klimawandel schreitet voran. Denken Sie mal an Australien vor zwei Jahren, an die Trockenheit, die Buschbrände, diese Gluthitze von über 50 Grad. Vor der Flut im Ahrtal hatten wir im westlichen Kanada ebenfalls an die 50 Grad. Hunderte von Menschen sind gestorben! Wie soll das denn weitergehen? Einige Regionen würden unbewohnbar werden. Lieferketten würden unterbrochen, die Weltwirtschaft nicht mehr funktionieren. Der Wohlstand würde sinken, es würde Verteilungskämpfe geben. Es geht um Verantwortung und Gerechtigkeit. Deswegen glaube ich tatsächlich, dass die Moral wieder Einzug in alle Bereiche halten muss: in die Politik, die Wirtschaft und natürlich auch bei uns selbst. Interview: Natalie Kettinger „Countdown. Unsere Zeit läuft ab – was wir der Klimakatastrophe noch entgegensetzen können“ von Mojib Latif ist gerade bei Herder erschienen und kostet 22 Euro. Am 22. November liest er daraus ab 19 Uhr bei der Münchner Bücherschau im Gasteig HP8. Infos: muenchnerbuecherschau.de krankheiten zunehmen, die wir hier bislang nicht kannten. Sie fordern mehr Radikalität beim Klimaschutz. In den letzten Tagen haben Aktivisten Tomatensuppe auf ein Gemälde von Van Gogh und Kartoffelbrei auf ein Kunstwerk von Monet geschüttet. Ist das die Radikalität, die Sie meinen? Nein. Dem kann ich überhaupt nichts abgewinnen, es ist furchtbar. Ich meine, dass wir bei der Energiewende schneller werden, dass wir radikaler denken müssen. Beim Ausbau der Erneuerbaren und der Netze darf es kein Halten mehr geben. Auch Bayern kann sich da mal schneller bewegen. „Wir haben uns in eine Welt der Scheinwerte begeben“ Was kann jeder Einzelne tun? Das Einfachste wäre, Energie zu sparen: Licht aus in unbenutzten Räumen, Standby abschalten, keine Lebensmittel wegwerfen. Was Energie, Lebensmittel oder auch Kleidung angeht, pflegen wir einen verschwenderischen Lebensstil mit Tendenz zur Wegwerfgesellschaft. Dabei kostet das alles Ressourcen. Warum müssen wir außerdem drei Mal pro Jahr in den Urlaub fliegen? Gibt es nicht bessere Möglichkeiten, sich zu erholen? Auf der globalen Ebene sehen Sie in der ökosozialen Marktwirtschaft einen Weg aus der Krise. Ja. Marktwirtschaft fördert Innovationen und dieser Wettbewerb muss sein. Doch im Moment wird Produktion oft in Länder verlagert, in denen die Umwelt- und sozialen Standards niedriger sind als bei uns. Das darf nicht sein. Wir müssen Wohlstand und Wachstum anders definieren: nicht mehr allein über finanzielle Kriterien, sondern zum Beispiel auch über Zufriedenheit. Das, was wirklich glücklich macht, sind nicht unbedingt materielle Dinge. Wir haben uns in eine Welt der Scheinwerte begeben sen, um zu sehen, ob das jetzt wirklich nur eine Notfalloperation am offenen Herzen gewesen ist – oder ob doch wieder der Atomeinstieg kommt und die Kohle längerfristig ein Thema ist. Was man aber sagen muss: Diejenigen, die jetzt auf die Regierung draufhauen, sind teils diejenigen, die 16 Jahre lang die Energiewende verschleppt haben. Manche sehen die Lösung des Problems im „Climate Engineering“. Damit sind Technologien gemeint, mit deren Hilfe Kohlendioxid aus der Atmosphäre herausgefiltert werden soll. Was halten Sie davon? Gar nichts. Erstens, weil es eine Bankrotterklärung wäre, wenn man es nicht schaffen würde, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen. Zweitens kämen diese Technologien viel zu spät. Im Moment gibt es lediglich Pilot-Anlagen. Bis das im großen Maßstab funktioniert – wenn es das überhaupt jemals tut – ist alles vorbei. Drittens sind die Umweltrisiken nicht geklärt. Und viertens: Nur, weil wir uns nicht ändern wollen und um diese alten Technologien künstlich am Leben zu erhalten, müsste man mit enormen finanziellen Mitteln eine völlig neue Infrastruktur aufbauen. Das macht doch alles keinen Sinn. Wir müssen uns ändern! Das verlangen auch die Aktivisten von „Fridays for Future“, die den Klimaschutz zum beherrschenden Thema gemacht hatten – bis Corona kam. Erhöht die Erderwärmung das Risiko von Pandemien? Indirekt. Die menschlichen Eingriffe in die Umwelt begünstigen die Entstehung von Pandemien. Beispiel Artensterben: Wenn es immer weniger Arten gibt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Erreger auch auf den Menschen überspringen. Außerdem begünstigt der Klimawandel die Ausbreitung von Erregern, die sonst nur in den Tropen existieren. Deshalb müssen wir damit rechnen, dass in den gemäßigten Breiten Infektionsvestieren. Wie sehr schmerzt es Sie, dass die EU im Rahmen der Taxonomie Gas und Atom als „grün“ gelabelt hat? Total! Das ist eine komplette Rolle rückwärts. Und es zeigt, dass wir unter dem Druck von Krisen immer das Falsche tun. Anstatt eine langfristige Strategie zu entwickeln, gehen wir dann Schritte zurück. Gerade Atomkraft ist alles andere als eine sichere Energieversorgung, wie wir derzeit in Frankreich merken. Warum haben unsere Nachbarn denn im Moment Energieprobleme? Weil die Hälfte ihrer Atomkraftwerke nicht läuft. Wenn wir jetzt an die noch wärmeren Sommer denken, die kommen werden, wird man die Meiler auch nicht mehr kühlen können. Insofern ist Atomkraft gerade in Zeiten des Klimawandels das völlig Falsche. Und dass sie sauber wäre, stimmt auch nicht. „Beim Ausbau der Erneuerbaren darf es kein Halten geben“ Das Saubere-Energie-Argument wird aber oft gebracht. Schon klar: Bei der Energiegewinnung wird weniger CO2 ausgestoßen als bei fossilen Brennstoffen. Betrachtet man jedoch den gesamten Lebenszyklus, ist es deutlich mehr, als wenn man Erneuerbare nutzen würde. Schließlich muss das Uran gefördert werden, transportiert, aufbereitet. Wind und Sonne müssen Sie nicht fördern oder importieren, die sind da. Die neue deutsche Regierung hat sich den Klimaschutz auf die Fahnen und in den Koalitionsvertrag geschrieben. Wie fällt Ihre erste Bilanz aus? Wie gesagt: Einerseits geht es im Moment rückwärts. Andererseits konnte niemand damit rechnen, dass es diesen Krieg geben würde. Die Regierung muss unter einer völlig neuen Situation handeln. Insofern möchte ich sie noch nicht bewerten. Lieber möchte ich ein paar Jahre ins Land gehen lasletzten Jahren total ausgebremst – vor allem die Windkraft. Dabei geht es um viel mehr als das Klima: Es geht auch um Energiesicherheit, um unseren Wohlstand, wir sind erpressbar. Dieses Problem müssen wir so schnell wie möglich lösen und unabhängig werden. In diesem Zusammenhang möchte ich an das Jahr 1973 und die erste Ölkrise erinnern, als die arabischen Ölländer ein bisschen am Hahn gedreht haben. Die Preise sind explodiert, es gab Fahrverbote und ein Tempolimit. Spätestens da hätten wir doch merken müssen, dass wir erpressbar sind, dass unsere Energieversorgung auf tönernen Füßen steht. Wenn Deutschland seinen Wohlstand behalten möchte, müssen wir die Energiewende so schnell wie möglich hinbekommen. Die aktuelle Krise hat allerdings dazu geführt, dass abgeschaltete Kohlekraftwerke wieder in Betrieb gehen und der Atomausstieg bis mindestens April aufgeschoben wird. Das zeigt, dass wir uns systematisch in eine Sackgasse manövriert haben. Was bleibt, ist die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen Atomkraft und Kohle. Wären wir die Energiewende schon 1973 angegangen, hätten wir heute nicht dieses Dilemma. Sie haben das Thema Tempolimit angesprochen und schreiben in Ihrem Buch, dass Sie selbst auf der Autobahn maximal 100 Stundenkilometer fahren. Täten das alle, würden pro Jahr 5,4 Millionen Tonnen CO2 eingespart – und damit nur ein Bruchteil der gut 700 Millionen Tonnen für die Deutschland im selben Zeitraum verantwortlich ist. Es gibt nicht die eine Maßnahme, die uns auf einen Schlag klimaneutral macht. Es ist ein ganzes Bündel notwendig. Aber beim Tempolimit kommt hinzu, dass alle über die hohen Benzinpreise jammern – und man dadurch auch Geld sparen könnte. Sie regen an, deutlich mehr in regenerative Energien zu inAZ: Herr Latif, Ihr neues Buch über den Klimawandel trägt den Untertitel „Unsere Zeit läuft ab“. Woran machen Sie das fest? MOJIB LATIF: Die Wetterextreme nehmen zu, was wir auch in Deutschland merken: Die globale Erwärmung führt zu Waldsterben infolge von Hitze, zu Bränden, Überflutungen und immer neuen Wärmerekorden. Hinzu kommt: Die Menschheit darf ein gewisses CO2-Budget nicht überschreiten, wenn die globale Erwärmung auf deutlich unter zwei Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit begrenzt werden soll, wie es im Pariser Klimaabkommen vorgesehen ist. Von diesem Budget haben wir schon einen Großteil aufgebraucht. Sie verlangen von der Bundesrepublik eine Vorreiterrolle beim Klimaschutz. Doch was bringen deutsche Bemühungen, bedenkt man, dass China zuletzt für rund ein Drittel des weltweiten CO2-Ausstoßes verantwortlich war? Da muss man ein wenig relativieren: China ist nicht der Hauptverantwortliche für die globale Erwärmung, die wir heute messen. Denn CO2 verweilt derartig lange in der Atmosphäre, dass die Gesamtmenge zählt, die seit Beginn der Industrialisierung ausgestoßen wurde. Ungefähr ein Viertel davon geht auf die USAmerikaner zurück. Ein weiteres Viertel haben die alten Industrieländer verursacht. Insofern hat Deutschland eine historische Verantwortung. Außerdem stellt sich die Frage der Gerechtigkeit: Wir Deutschen stoßen pro Kopf jährlich etwa neun Tonnen CO2 aus, die Chinesen ungefähr sieben, die Inder nur zwei. Warum dürfen wir mehr CO2ausstoßen als andere? Das heißt, unser Lebensstil ist nicht übertragbar auf den Rest der Welt. Auch das ist ein Grund, warum wir etwas tun müssen. Ein weiterer hat damit zu tun, dass wir einerseits das Geld und andererseits das technologische Know-how dazu haben. Was meinen Sie genau? Seit 1990 ist der weltweite CO2-Ausstoß um 60 Prozent gestiegen. Bei uns ist er im selben Zeitraum um fast 40 Prozent gesunken. Das zeigt doch, dass es geht. Trotzdem sind Sie mit dieser Bilanz unzufrieden. Warum? Wir haben zu lange an der Kohle festgehalten. Wir haben die Erneuerbaren Energien in den Um eine Klimakatastrophe zu verhindern, plädiert der bekannte Meteorologe Mojib Latif im AZ-Interview für radikale Veränderungen in allen Bereichen – gepaart mit Verantwortung und Moral AZ- INTERVIEW mit Mojib Latif Der Meteorologe (*1954) ist unter anderem Präsident der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und der Deutschen Gesellschaft Club of Rome. Zudem ist er Professor am Goemar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel. Foto: Jan Steffen, IFM Geomar POLITIK Ausgewählt Nachhaltige Investitionen SEITE 14 11 POLITIK ABENDZEITUNG SAMSTAG/SONNTAG, 29./30. 10. 2022 WWW.ABENDZEITUNG.DE TELEFON089 23 77-3100 E-MAIL POLITIK@ABENDZEITUNG.DE Ausgezeichnet Das Energie-Dorf Wildpoldsried SEITE 19

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