Wandern 09.09.2022

37 Wander-Special Der wilde Blaue Unterwegs auf der Trekkingroute Selvaggio Blu in Sardinien Sie gilt als eine der härtesten Trekkingtouren Europas und als die vielleicht schönste. Fünf Tage führt der Selvaggio Blu weglos entlang der sardischen Steilküste. Meine Fersen hängen über der Klippe, beide Hände umklammern das Seil, über die Schulter schaue ich hinab ins türkise Meer. 40 Meter unter mir tuckern Boote heran, Urlauber winken und jubeln auf ihren im Wasser dümpelnden Tribünen. Ich atme tief, konzentriere mich auf den RückwärtsHopser über die Felskante, auf die Handgriffe beim frei schwebenden Hinabgleiten am Seil. Jetzt bloß nichts verbocken. Es ist die letzte und tiefste Abseilpartie, quasi das würdige Finale dieser Tour. Fünf Tage hat sie uns entlang des Golfo di Orosei geführt, durch die Wildnis einer Hunderte Meter hohen Steilküste, einem Weltnaturerbe im Osten Sardiniens. Als Selvaggio Blu wurde sie weltberühmt. Heute gilt sie als eine der schönsten Trekkingrouten Europas. Und als die vielleicht härteste. Allein die Route zu finden, ist schwierig. „Der Selvaggio Blu ist kein festgelegter Weg“, sagt Bergführer Ivan Pegorari. Es gebe viele Varianten, aber alle folgten der gleichen Philosophie: so nah wie möglich am Meer entlang zu gehen. Ein zahmer Start ins Abenteuer Der Weg lässt sich bei vielen Bergreise-Veranstaltern buchen, inklusive Guide und täglichem Versorgungsboot. Auf eigene Faust loszuziehen, wäre extrem leichtsinnig – allein schon, weil es in den Kalkbergen des Supramonte kaum Wasserquellen gibt. Der Startpunkt wirkt mäßig wild: ein Parkplatz unterhalb des Dorfs Baunei. Über einen Sandpfad wandern wir durch die Macchia. Je höher wir steigen, desto dichter wird der Wald. Wir balancieren über Geröll, ducken uns unter Ästen hindurch, immer wieder bleibe ich mit dem Rucksack hängen. Der lange Abstieg endet an einem schmalen Fjord. Als das Versorgungsboot einläuft, packen alle an, schleppen Vorräte, Zelte, Taschen mit Schlafsäcken und frischer Wäsche an Land. Früher schliefen die Wanderer am Strand, obwohl das auch damals schon verboten war. Aber es waren eben nur sehr wenige. Doch 2011 wurde der Selvaggio Blu schlagartig berühmt, als TV-Sender und das Magazin des italienischen Alpenvereins CAI berichteten. Vor sechs Jahren legte die Nationalparkbehörde Zeltplätze an, auf jedem dürfen maximal 40 Wanderer pro Tag übernachten. Tatsächlich wurden auf im Wald verstreuten Parzellen das Unterholz gerodet und Steine geräumt. Je weiter ich mich vom Meer entferne, desto stärker riecht es nach Ziege. Die Stimmung ist trotzdem bestens, spätestens als die Guides Pasta auf die Teller schaufeln. Dazu gibt es Wein aus der Plastikflasche. Und als Dessert packt Pegorari seine Gitarre aus. Durch dicht stehendes Gebüsch steigen wir am nächsten Morgen auf, es ist windstill, stickig, heiß. Ein paar Schweine preschen vom Pfad in den Wald, zottelige Ziegen starren uns aus sicherer Entfernung an. An manchen Felsen sind noch blasse blaue Striche zu erkennen, die originalen Markierungen. Heute weisen Steine den Weg, in Astgabeln gelegt oder auf Zweige gespießt. Wir treten auf eine Felskuppe. Tief unter uns liegt die Cala Goloritze, die millionenfach fotografierte Traumbucht: gestufte, grün gesprenkelte Felswände, eine Flotte weißer Boote im Türkis, direkt über dem Strand die kolossale Felsnadel Aguglia. Wie abenteuerlich die Tour noch wird, ahnen wir spätestens am nächsten Morgen. An einer Geröllhalde müssen wir umkehren, ein Felssturz hat den Pfad weggerissen. „Der Weg ändert sich jedes Jahr“, sagt Pegorari. „Im Winter regnet es hier viel.“ Anders als offizielle Wanderwege wird der Selvaggio Blu nicht instand gehalten. Ohne Bergführer würde es spätestens jetzt knifflig werden. Hängepartie hinterm Felssturz Und die Schlüsselstelle des Tages kommt erst noch: das erste Abseilen. Schritt für Schritt taste ich mich rückwärts Richtung Abgrund. Die eine Hand hält das Seil, das an einem knorrigen Wacholderstamm hängt. Die andere schiebt die Prusikschlinge übers Seil. Sie würde sich bei einem Sturz zuziehen. Selbst wenn ich das Seil losließe, kann also nichts passieren. Trotzdem kostet es Überwindung, rückwärts über die Kante zu hopsen und langsam in die Tiefe zu rutschen. Aber am nächsten Tag bekomme ich reichlich Gelegenheiten, Technik und Stil zu verbessern. Sieben Abseiler warten, der höchste am Schluss. Das Einhaken und Sichern geht nun zügiger von der Hand, kein hektisches Verheddern mehr. Und das flaue Gefühl weicht schierer Vorfreude. Jauchzend surren wir abwärts, fast schon routiniert. Damit uns nicht fad wird, führen uns die Guides zum Abschluss in eine Höhle. Tausende durchlöchern die Kalkberge des Supramonte. An einem einfachen Strick steigen wir rückwärts in den finsteren Schlund hinab. Durch hüfthohe Spalten robben wir weiter, Höhle für Höhle – bis wir wieder Licht sehen. Und das Meer. Als Lohn wartet die vielleicht schönste aller Buchten: Cala Biriola. Florian Sanktjohanser, dpa Der Schulterblick lohnt sich beim Abseilen hoch über dem Meer. Fotos: Florian Sanktjohanser/dpa-tmn Einmal quert der Weg das Geröllfeld eines gigantischen Felssturzes.

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